Vorbemerkung
Die 16 einstündigen Vorlesungen, gehalten im
Wintersemester 2004/2005 an der Hochschule für Gestaltung und Kunst
in Basel, handeln von der Frage nach dem Bild und seiner Bedeutung
für den Einzelnen und die Gesellschaft. Im Rahmen des Lehrangebots
“Kultur und Reflexion” richtete sich die Vorlesung an die
Studierenden aller Studiengänge: Bildende Kunst Medienkunst,
Visuelle Kommunikation, Lehramt bildende Kunst, Mode-Design und
Innenarchitektur. Anlass für die unveränderte Publikation des
Vorlesungsmanuskripts war die Nachfrage der Studierenden. Als
Nachlese für Hörerinnen und Hörer, als Post für Interessierte, mag
das Manuskript daher auch in dieser seiner ursprünglichen Form
dienlich sein. Spontan und mündlich vorgetragene Abschnitte sind
kursiv wiedergegeben, Fußnoten und Quellenangaben in der Regel
nachträglich hinzugefügt. Abschnitte, die aus Zeitgründen nicht
vorgetragen, aber zum Vortrag bestimmt waren, sind an das jeweilige
Vorlesungsmanuskript angefügt. Für die freundschaftliche, oft
zeitaufwendige und immer kompetente Begleitung meiner Arbeit danke
ich herzlichThomas Dresel und Andreas Wernet. Dank geht auch an
Ursula Sinnreich, die mich mit der Einladung an die Hochschule für
Gestaltung und Kunst dazu herausgefordert hat ausdrücklich zu
formulieren, was sonst impliziter Teil der Atelierarbeit geblieben
wäre. Ich danke der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK) in
Basel für finanzielle Unterstützung und dem Modo Verlag, der unter
Zeitdruck auch dieses Projekt noch zu meistern in der Lage war.
Richard Schindler, Freiburg i.Br. August 2005
Vorlesung 01 - 25.10.2004
Da steht einer an der Straße und will hinüber. Aber
nicht abreißender Autoverkehr macht das unmöglich. Drüben sieht er
einen Anderen stehen. Er ruft ihm zu: “Wie sind Sie hinüber
gekommen?” - “Überhaupt nicht”, antwortet der, “ich bin hier
geboren.“
Alpha AND.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Neulich, in der Mensa, wünschten freundliche
Menschen mir viel Glück für die Vorlesung und rieten mir, alle
Entertainerfähigkeiten zu mobilisieren, die mir zu Gebote stünden.
Studenten heute seien es gewohnt unterhalten zu werden. In Amerika
werde kein Vortrag, keine Rede ohne einleitenden Scherz oder Witz
begonnen: das lockert die Atmosphäre und vermittelt zu den Hörern.
Ich wollte gut gemeinten Rat nicht leichtfertig in den Wind schlagen
– füge dem aber noch einen weiteren Grund hinzu. “Witz” leitet sich
etymologisch vom altdeutschen „wizzi“ ab und bedeutet „wissen“,
„verstehen“. Und darum soll es ja auch gehen, in dieser
Veranstaltung.
Witze erlauben die gezielte Erfahrung dessen, wie
uns Erkenntnis zustößt. Jede Erkenntnis nämlich scheint plötzlich
auf, und stellt, wie die Pointe eines Witzes und frei nach
Hegel, auf wundersame Weise eine neue Welt hin. Was bis dahin galt,
gilt nun nicht mehr. Auf befreiende Art und Weise ist schlagartig
Neues erstanden. In dem eingangs erzählten Witz der Hinweis
vielleicht: nicht alles, was erreichbar scheint, ist es auch. Und
unwillkürlich taucht die Frage dazu auf, ob wir deshalb aufhören
sollten, es weiter zu versuchen.
Die “Zeitlosigkeit” der plötzlichen Einsicht, die
die Pointe charakterisiert, ist in gewisser Weise auch Bildern
zueigen – anders nämlich als Tanz, Theater, Musik oder Erzählungen,
deren primäre Gestalt bekanntlich eine explizite Verlaufsform in der
Zeit ist, sind Bilder zeitlos: ihre Elemente sind prinzipiell
simultan erfahrbar.
Die Vorlesung dagegen muss ihre Argumente nach und
nach entwickeln, sie ist kein Witz und (leider) auch kein Bild. Die
Anstrengung gilt der Explikation: der Entfaltung in ein
Nacheinander. Alles, was doch zugleich gesagt werden müsste,
was zugleich sichtbar sein sollte, will nach und nach
herausgebildet sein. Es ist das, was Hegel einmal als das
Allerschwerste bezeichnet hat: “Das leichteste ist, was Gehalt und
Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer es zu fassen, das
schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung
hervorzubringen.”1
“Nach und nach” bedeutet, dass die einzelnen Momente
erst im Nachhinein in Zusammenstellungen gebracht werden können, die
sinnstiftend erhellend sind und so (vielleicht) ein Bild ergeben.
Nach und nach muss erzählt werden – hoffend, dass derart ein
Körnchen zum anderen komme und vielleicht, unbestimmbar wann
und wie, ein Haufen entsteht [während mir ein Haar nach dem anderen
ausgeht und, unbestimmbar wann genau und wie, eine Glatze wird]. Ich
werde der Versuchung widerstehen und diesen geheimnisvollen
Umschlagspunkt von Quantität in Qualität, diesen starting-point und
point of no return, diese auf immer verlorene Unschuld, die den
Wissenden vom Nicht-Wissenden, den Erfahrenen vom Unerfahrenen
trennt, nicht beschreiben. Ich erzähle stattdessen noch einen Witz.
Kohn ist im Begriff über die Grenze zu gehen. Da
hält ihn der Zöllner an und fragt: was ist drin in dieser Flasche?
Oh, antwortet Kohn, das ist geweihtes Wasser vom Wunder-Rabbi. Der
Grenzer macht den Stöpsel auf, riecht und stellt fest: Slibowitz!
No, na, entfährt es Kohn, scho’ wieder so a Wunder!
Dies werden wohl die einzigen Witze bleiben, die ich
ihnen erzähle - von den unfreiwilligen einmal abgesehen. Aber auf
Wunder, auf Erkenntnisse, Einsichten und Erfahrungen dürfen wir
vielleicht hoffen. Auch und gerade weil ich gar nicht erst versuchen
werde, Sie zu unterhalten; unterhalten müssen sie sich selbst.
Vielleicht, indem Sie die vorgezeigten Bilder, Beobachtungen,
Erfahrungsberichte und Gedanken solange in verschiedene Anordnungen
bringen, bis sie zu einer erhellenden Figur zusammenschießen. 2
Womit ich Sie auf einfachste Art und Weise mit dem Begriff der
Konstellation in Berührung gebracht habe, wie ihn Adorno entwickelt
hat [Manche würden heute vielleicht den Begriff mapping vorziehen].
“Konstellation nennt man das Verhältnis der Gestirne
zueinander (stella, lat. Stern). Übertragen bezeichnet Konstellation
ein Verhältnis von Gegenständen oder Ereignissen (Konstellation von
Umständen), das nicht kausal notwendig, aber auch nicht beliebig
ist.”3 Im Sternenbild fügen sich alle zugehörigen Sterne zusammen,
fehlte einer, wäre es ein anderes Bild. Das bedeutet: in einer
Konstellation sind alle Elemente gleich weit vom Zentrum entfernt.
Es gibt sozusagen nichts Nebensächliches, nichts, was nur
hinführenden, vermittelnden Charakter hat. Wenn es gelingt, werden
die Momente dieser Vorlesung Momente einer Konstellation – lassen
sich zu einer stimmigen Gestalt fügen.
Richtige Deutung gestaltet sich nach Adornos
Einsicht wie das Öffnen „wohlverwahrter Kassenschränke, nicht durch
einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern durch eine
Nummernkombination“4. Mein Appell an Sie: kombinieren Sie,
konstellieren Sie. Und seien wir alle dabei mutig genug,
Unzusammenhängendes auf sich beruhen zu lassen – es schließt nicht
aus, dass es auch ohne unser willentliches Zutun kurze Berührungen
gibt im Kopf, die Funken schlagen. Für meinen Teil will ich
versuchen, ein paar verstreute Elemente zusammen zu ziehen - soweit
ich eben gekommen bin, bisher.
Ein Lehrer, notierte Friedrich Nietzsche einmal,
müsse seine Lehre lehren, um sie sich einzuverleiben. Das
also könnte mein Gewinn sein, während ich versuche Ihre
Neugier anzustacheln.
Lassen Sie mich dazu von einer Erfahrung berichten,
die ganz und gar nicht witzig war, die mir aber dennoch
plötzlich eine Welt öffnete, die mich im Herzen traf und also auch
ins Herz der Frage dieser Vorlesung führt.
Als junger Mann von 19 oder 20 Jahren habe ich einen
Super-8 Film über Störche gedreht. Ich hatte eine Kamera, nichts
weiter zu tun und eine Ahnung davon, dass es diese Tiere vielleicht
bald einmal nicht mehr geben wird. Jedenfalls in dem Dorf nicht, in
dem ich mit meinen Eltern lebte. Tage und Wochen saß ich auf dem
Kirchendach, beobachtete und filmte die Vögel im Nest.
Meine Anfänge mit dem Medium Film und Fotografie
deckten sich, wie ich später lernte, durchaus mit den Anfängen der
Fotografie selbst. Von Anfang an nämlich, und bis heute, dient
dieses Aufzeichnungs- und Speichermedium dazu, Vergehendes fest zu
halten. Ab 1874 “konnten wohlhabende Londoner Bürger Geldbeträge für
den‚ Verein für das Fotografieren der Überreste Alt-Londons’
zeichnen.”5 “Kameras begannen”, schreibt Susan Sontag, “die Welt in
dem Augenblick abzubilden, als die menschliche Landschaft sich
rapide zu verändern begann: Während unzählige Formen biologischen
und gesellschaftlichen Lebens in einer kurzen Zeitspanne vernichtet
wurden, ermöglichte eine Erfindung die Aufzeichnung dessen, was
dahinschwand.” 6
Auf dem Kirchendach, mit der Kamera in der Hand,
bemerkte ich eines Tages, unten am Friedhof – im Dorf war zu der
Zeit der Friedhof noch an der Kirche 7 - meine Eltern. Der Vater
winkte herauf und bedeutete mir, ich solle filmen, wie sie auf den
Friedhof gehen, das Grab der Großeltern zu pflegen. Ich hatte keine
Lust, wollte aber auch nicht nur so tun als ob. Also filmte ich
meine Eltern. Aus dieser Höhe sahen sie recht klein aus, aber mit
dem Zoom war das kein Problem. Ich filmte, sie winkten herauf zu mir
und gingen durchs Friedhofstor. Die gefilmte Sequenz war bestimmt
nicht länger als 30 oder 45 Sekunden. Dann wandte ich mich wieder
den Störchen zu. Es war prächtig – vor allem am Abend, wenn die
Sonne tief stand und das reinweiße Gefieder der Jungstörche selbst
zu strahlen schien und die Schnäbel der Alten blutrot leuchteten.
Von Zeit zu Zeit schickte ich die belichten Filme
zur Entwicklung ins Labor. Wenn sie entwickelt zurück gekommen
waren, verdunkelte ich mein Zimmer und begutachtete das Resultat des
stundenlangen Ansitzens auf dem Kirchendach. Da sah ich sie
plötzlich winken. Ich hatte vergessen, dass ich meine Eltern gefilmt
hatte. Der Projektor ratterte und meine Eltern strahlten herauf zu
mir und winkten. Sie winkten aus einer anderen, längst vergangenen
Zeit; einer Welt, die nicht mehr von dieser Welt ist. Und ich saß da
und starrte auf das Lachen, das Winken, das keines war. Es war ein
Schock. Ich war gelähmt. Ich hatte das unabweisbare, bestimmte
Gefühl, sie wären tot. Was ich hier und jetzt sah, war schon lange
nicht mehr. Und doch drängte es her zu mir, hielt mich gefangen in
jener vergangen Zeit. Ich wusste, was ich sah, waren meine Eltern,
wie sie einmal waren, und dass sie so nie mehr sein würden, weil sie
eben so nicht mehr sind.
Das Erlebnis, das ich Ihnen nur sehr unzureichend zu
schildern vermag, war gewaltig. Es war nicht recht, die Eltern
vergangen, gleichsam tot zu sehen, wo sie doch lebten, nebenan den
Tisch deckten oder im Garten hantierten.
Das Auseinanderfallen der Zeit, in Vergangenheit und
Jetzt, und die unabwendbare Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und
Gegenwart war mir unerträglich. Ohne den Film auch nur ein zweites
Mal anzusehen, schnitt ich die Sequenz heraus und vernichtete die
Bilder - eine erleichternde Operation.
Ich kann und will dieses Erlebnis nicht
psychologisch deuten. Nur soviel möchte ich sagen, dass es mir immer
aufs deutlichste illustriert hat, was Roland Barthes über Fotografie
schrieb. Der Sinngehalt eines Fotos liege genau in diesem
“Es-ist-so-gewesen” und seiner unbedingten Gegenwart im Foto. Sich
selbst auf einer Fotografie zu sehen, bedeute zu sehen, “dass ich
GANZ UND GAR BILD geworden bin, das heißt der Tod in Person”. Und
“all die jungen Photographen, die durch die Welt hasten, weil sie
sich dem Aktualitätenfang verschrieben haben, wissen nicht, dass sie
Agenten des Todes sind.” Obgleich Roland Barthes an dieser Stelle
und in dieser Hinsicht einen Unterschied machen zu müssen glaubt
zwischen Fotografie und Film, vermute ich doch, dass diese
Unterscheidung hier mehr verdunkelt als erhellt. Vielleicht kommen
wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal darauf zurück.
Jedenfalls hatte ich zum ersten Mal in die Glaskugel
geblickt. Zum ersten Mal wahrsagende Lichtspiele gesehen – den gar
nicht heiteren Gesang der Sirenen gehört. Bilder zeigen, was war
und eben deshalb auch, was für immer so sein wird. Wie die
Sirenen “wissen” sie alles, was wird und war. Nicht die Menschen,
wie Rainer Maria Rilke fürchtete, sprechen alles so deutlich aus;
nicht ihnen ist kein Bezug mehr wunderbar, sondern den Bildern. Was
wir an Bildern wahrnehmen, ist nicht zum Jubilieren. Wir sind keine
Kinder mehr und blicken in keinen Spiegel, der uns eine Ganzheit
vorgaukelt, die wir nicht sind. Erwachsen sind wir und sehen
erkennend die ganze Bildergeschichte: es war einmal. Und da
sie längst gestorben sind, leben sie noch heute …
Die verführerischen Gesänge der Sirenen, die noch
jeden Hörenden in den Tod gelockt haben auf blumiger Wiese, der
nicht wie Odysseus am Mast gefesselt sich aufrecht hält, diese
Gesänge waren, nach Kirkes Weissagung, ein Versprechen: Wir wissen
alles und sagen dir wahr – alles was geschah und geschehen wird,
werden wir getreulich verkünden - jetzt und immerdar. Eben dieses
Versprechen geben heute die Bilder. “Uns ist alles bekannt, was ihr
Argeier und Trojer durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren
geduldet: Alles, was irgend geschieht auf der lebensschenkenden
Erde!”8
Heute wissen wir: Nicht dem Gesang ist alles
bekannt, Datenspeichern ist alles bekannt, was geschieht auf
Erden - und im Himmel. Sie sind das Massengrab der Ereignisse; die
besten Pyramiden und Mumien aller Zeiten.
Mit Einschränkungen freilich: Die schier
unüberbietbare Vielzahl von Datenträgern, Schreib- und Lesegeräten,
von Soft- und Hardware haben den Bibliothekaren und Archivaren ein
gigantisches Problem geschaffen. Anders nämlich als die tönernen
Schrifttafeln der Sumerer, die als die ältesten systematischen
Aufzeichnungen von Schriftgut gelten, ist heute völlig unbekannt,
wie lange das auf Datenträger externalisierte Wissen sich wieder
verwertbar wird halten können. Die Langzeitverfügbarkeit digitaler
oder digitalisierter Daten ist keineswegs gesichert. Neben den
technischen Problemen im engeren Sinn gibt es Probleme der
Katalogisierung und der Standardisierung, es gibt damit verbundene
juristische, organisatorische und gesellschaftliche Probleme.9
Die Datenspeicher der Bilder überführen aber nicht
nur lebendige Gegenwart in ein Gewesen-Sein. Vieles wird ja
überhaupt nur deshalb geschaffen, um fotografiert, um gefilmt zu
werden. Wenn das Bild im Kasten ist, kann das Set abgebaut werden.
Was für den Spielfilm notwendig ist, ist nicht das Sein vor
der Kamera, sondern sein Gewesen-Sein. Es wird inszeniert,
um gewesen zu sein. Der Film dokumentiert die Selbstherrlichkeit
einer Schöpfung, die im Vergehen obsiegt – Film ist die stets
triumphale Herausforderung dieses einen Sinns: geschaffen,
hervorgerufen, um gewesen zu sein. Ist das eine ungeheuere
Provokation? Oder ist es ein Trost? Sehen, dass etwas geschaffen
wurde, um vor Augen zu führen: auch das war einmal.
Während das Spiel auf der Theaterbühne auf die Bühne
gerufen wird, damit es gespielt werde, damit es
geschehe, ist die Bedingung der Möglichkeit des Films das
Gewesen-Sein. Es muss vorbei sein, um gezeigt werden zu können – vom
Film gezeigt zu werden.10
Jeder Film mithin bestätigt aufs Neue: so war es,
so kommt es nie wieder. Das ist beunruhigend, aber offenbar auch
tröstend: nie wieder. Das Vergangene sucht uns nicht
heim, wiederholt sich nicht, bleibt auf immer
vergangen. Der Film ist keine Zeitreise, sondern die Vergewisserung
darüber, dass Zeitreisen nicht möglich sind. Was war, das
war. Jeder Film, jedes Foto zeigt: Das war einmal, und
das, und das, und das auch – und alles das bleibt
vergangen. (Vielleicht ist das notwendig geworden nach der Vision
der ewigen Wiederkehr.)
Aber desungeachtet: gibt es jemanden, der nicht
dennoch in diesem kollektiven Gedächtnis gespeichert sein will?
In diesen Medien-Pyramiden? Drängen nicht alle vor die Kameralinse,
ins Fernsehen, in die Zeitung, ins Internet? Mitunter kann man sich
des Eindrucks nicht erwehren, dass wir leben, um dort, im Gedächtnis
dieser Sirenen, gespeichert zu werden. Um dort ein angenehmes Bild
abzugeben, denen, die nach uns kommen. Oder erfahren wir etwas über
uns selbst, wenn wir uns dort sehen?
Aber wer könnte all die Bilder aus ihrer dunklen
Bleibe holen und wirklich und tatsächlich wieder sehen, alle
wahrnehmen, gar umarmen? Wer der Sirenen Wohnung berührt, erklärte
Kirke, “den wird Zuhause nimmer die Gattin und unmündige Kinder mit
freudigem Gruße begegnen.” Er wird sich eingerichtet haben zwischen
all den aufgehäuften Gebeinen modernder Menschen, zwischen
ausgetrockneten Häuten auf der blumigen Wiese der Sirenen. Mit
anderen Worten: Wer in die Welt der Bilder gerät, riskiert dort
nicht mehr heraus zu finden.
In Frage steht, ob und wie unter solcher
Voraussetzung Bilder zu “machen” überhaupt verantwortet werden kann.
Ich möchte Ihnen Grundsatzfragen zu bedenken empfehlen: Was ist ein
Bild? Was heißt: ein Bild machen? Was ein Bild entstehen zu lassen?
Warum machen wir Bilder? Was machen wir mit Bildern? Was machen
Bilder mit uns? Ich möchte der schon nicht mehr dunklen Ahnung
Nahrung geben, dass Bilder aus strukturellen Gründen mit Gewalt und
Tod zu tun haben. Denn wie mir scheint, geht es nicht nur um einen
verantwortlichen Umgang mit Bildern, sondern um den begründeten
Verdacht, dass Bilder als Bilder höchst gefährlich (aber auch
aufschlussreich) sind.
Gab es das nicht schon? Haben wir das nicht schon
mal gehört? Platon? Die Bilderstürmer? Der Bilderstreit? Die
Ikonoklasten? In der Tat, das große Problem bei diesem Vorhaben ist,
dass es (heute) kein Problem ist (Nietzsche). Aber ich hoffe, dass
es mir gelingt, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen und Hintergründe,
Fakten und Plausibilitäten vorzubringen, die geeignet sind, Ihnen
die Dringlichkeit der Frage, das Gewicht des Problems deutlich zu
machen, um sie zu beunruhigen.
Manche werden sich auch fragen, ob es ratsam ist,
gerade Ihnen damit zu kommen. Ihnen, die Sie hier sind, um
Architektur, Design oder Bildende Kunst zu studieren: Mit der
Warnung Bilder zu machen? Es ist nicht ermutigend gleich zu Beginn
damit konfrontiert zu werden.
Aber ich sehe nicht, wie Lehrer ihrer Aufgabe
gerecht werden wollen, wenn sie uns nicht mit dem
konfrontieren, was die Welt für uns bereithält. Es hilft ja nicht
weiter, wenn wir die Augen verschließen, uns in die Geschichte der
Architektur, des Design, der Kunst versenken und so tun, als
ereignen sich nicht auch eben jetzt bildnerische Dinge, die
uns wirklich angehen: das Trommelfeuer der alltäglichen Bilder, die
mutwillige Zerstörung jahrtausendalter Buddha-Statuen durch die
Taliban, Kinderpornografie und die verletzenden Fotos geschundener
Katastrophen- und Gewaltopfer.
Was ich mir vorgenommen habe mit Ihnen zu bedenken,
führt in das Zentrum einer Erfahrung und mithin auch in das Zentrum
meiner künstlerischen Arbeit. Das bedeutet auch, dass es
in Arbeit
ist. Sie können also kein fertiges Produkt erwarten. Ich
habe nicht mehr zu bieten, als blanke Drähte und lose Enden. In der
Hoffnung freilich, dass Sie damit umzugehen verstehen und sie mit
dem verknüpfen, was sie selbst in Händen halten.
Zugegeben, blanke Drähte, lose Enden, das klingt
nicht nur gefährlich, es ist es wohl auch. Wer mit blanken Drähten
hantiert, sollte sich vorsehen. Derjenige, den ein Stromschlag
trifft, hat nichts zu lachen – aber auch derjenige nicht, dem ein
Elektroschock das Leben rettet. Vielleicht also, dass sich hier ein
Kreis schließt, dort ein Horizont sich öffnet. Aus meiner Sicht geht
es also nicht um Fakten zum Mitschreiben, sondern um Gedanken
zum Mitdenken. Ich sage das, weil es irritierend sein kann,
wenn man als Hörer nicht so recht weiß, auf was man eigentlich
achten soll und um was es in der Rede geht. Andererseits ist es mit
dem Vorlesungstitel ja gesagt – die Vorlesung soll eine Explikation
des Titels in Gestalt von Anfängen und Näherungen sein. Das
beinhaltet das Risiko in die Irre zu gehen, auch darum ist es
geboten, mitzudenken. Die Vorlesung ruft zu Mit-Verantwortung auf.
Tempo raus, langsamer werden, bremsen. Was zu sagen
ist, ist kein Schnellverschluss, eher Reißverschluss – vielleicht,
dass da etwas zusammenpasst und gar einen Schaltkreis, einen
Regelkreis bildet. Was ja das plötzliche Einklinken eines Gedankens
oder Bildes nicht ausschließt. Vielleicht ist es wichtig, auf
Wiederholungen zu achten, damit sich Sachverhalte in verschiedenem
Licht zeigen können.
Die Unabgeschlossenheit des Vorzutragenden (insofern
es noch in Arbeit ist) hat den Vorteil, an einem Prozess
teilzuhaben. Ich denke, als Studierende haben Sie ein Anrecht
darauf. Resultate, die in Büchern stehen, in Ausstellungen zu sehen
sind, können Sie sich selbst aneignen. Worum es mir geht, im
Studium, ist die Chance, dass das studium durch ein
punctum aus dem Gleichgewicht geraten kann. Ich werde mich
darüber gleich zu erklären versuchen.
Es hat mit Vertrauen zu tun, wenn ich Ihnen
offenbare, was mich beunruhigt und wie ich damit
umgehe. Ich tue dies nicht, weil ich so vertrauensselig bin, sondern
weil ich der Ansicht bin, dass die höchste Form des Studiums
diejenige ist, die uns erlaubt, hinter die Kulissen zu schauen,
teilzunehmen am Verfertigen von Gedanken oder Bildern. Dazu ist auf
Seiten der Lehrenden nicht mehr zu tun, als sich ein wenig zur Seite
zu neigen, um Sie über die Schulter blicken zu lassen. Der dann
hoffentlich mögliche Mitvollzug ist eine Chance – aber auch riskant:
Es wird sich zeigen, ob und wie weit in unwegsamem Gelände uns
zurecht zu finden uns gelang, ob und wie wir durch die Klippen
kamen. “Zeige Deine Wunde” lautet der appellative Titel einer
Installation von Joseph Beuys, den wir uns hier zu eigen machen
können.
Wenn Sie am Ende nicht wissen sollten, was er
eigentlich gesagt hat, dann mag das damit zusammen hängen, dass er
nicht nur etwas gesagt hat - Ergebnisse vorgestellt,
Resultate verkündet hat -, sondern einen Weg gegangen ist, etwas
gezeigt, vorgeführt hat. Und den Weg kann man nur versuchen noch
einmal zu gehen, das Gezeigte kann man nur versuchen sich noch
einmal zu vergegenwärtigen.
Wissenschaften wie Konstruktivismus oder
Hirnforschung gehen im Hinblick auf die anstehende Frage nach dem
Bild andere Wege und kommen zu anderen Ergebnissen – aus deren Sicht
ist das hier Vorzubringende womöglich barer Unsinn: Ist es darum
aber weniger interessant, weniger aufschlussreich für uns, die wir
Bilder zu verantworten haben? “Detaillierte physikalische
Erklärungen, wie die Dinge funktionieren, (werden) niemals von
Belang sein … für die Frage, wie man sein Leben führen soll.”11 Wozu
sonst, wenn nicht dazu, sollte unsere Auseinandersetzung über den
Umgang mit Bildern etwas beitragen.
Das Beste, das man bekommen kann an einer Akademie,
einer Universität oder Hochschule, ist das Auge – das, was sonst
überall wohl gehütet wird, wie der Augapfel eben. Das, was noch
offen, verletzbar ist, das, was nicht abgeschlossen, nicht
gesichert, durch nichts anderes gedeckt ist als durch die Erfahrung,
die einer oder eine bis dahin gesammelt und bedacht hat.
Vorerst bin ich Ihnen noch die angekündigte
Erklärung schuldig: das Studium, sagte ich, solle durch ein punctum
aus dem Gleichgewicht geraten können. Beide Begriffe entfaltet
Roland Barthes in dem Buch, aus dem ich eben schon zitiert habe und
das zu lesen ich Ihnen dringend empfehle. Es hat den Titel “La
chambre claire” und ist unter dem Titel “Die helle Kammer” neun
Jahre nach dem Tod von Roland Barthes im Jahre 1985 bei Suhrkamp in
deutscher Übersetzung erschienen.
Mit dem lateinischen “studium” benennt Roland
Barthes einen Affekt, eine Art und Weise der “Hingabe an eine Sache,
das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung,
beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit.” Ein Gefühl
allgemeinen Interesses, das wir an allen möglichen Dingen oder
Sachverhalten haben können. Mit diesem Gefühl wenden wir uns einer
Sache zu, um sie zu studieren. Ein “vernünftiges Interesse”, das
eine gewisse Aufmerksamkeit, aber auch Einförmigkeit garantiert: Die
meisten Bilder (Roland Barthes zählt Reportagefotos dazu, aber auch
pornografische Fotos) sind von der Art, dass sie zwar unsere
Aufmerksamkeit erregen, aber auch nicht mehr. Solche Bilder können
wir studieren.
Nun kann es aber geschehen, dass irgendein scheinbar
belangloses Detail eines solchen einförmigen Bildes uns plötzlich
berührt. Dieses Detail, das uns plötzlich anspringt, nennt Roland
Barthes das punctum. Was das studium aus dem Gleichgewicht bringt,
ist das punctum: Das Wort “meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner
Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer
Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht
(mich aber auch verwundet, trifft).” Das punctum ist ein
Nicht-Gemeintes, ein vom Fotografen nicht Gemeintes. Es kann bei der
Herstellung des Fotos nicht erfolgreich intendiert werden. Mit etwas
Glück wird sich im Nachhinein herausstellen, dass es vorhanden ist;
absichtslos, am Rand der Aufmerksamkeit wird es sich selbst ins Bild
gebracht haben. Es wird sich begeben, ereignet haben. Dann, im
Nachhinein, kann es uns als Betrachter gelingen herauszufinden, was
genau auf einem Foto das punctum ist: vielleicht die schmutzigen
Fingernägel einer Person, eine Halskette, oder die angehaltene
Bewegung einer Hand. Ich glaube, das “punctum” ist nur unzureichend
charakterisiert, wenn manche vom einem “ungezogenen” Detail
sprechen, das, erst einmal wahrgenommen, das ganze Bild auf
unheimliche Weise zu dominieren vermag. Aber wir verstehen, was
gemeint ist.12
Roland Barthes unterstreicht, dass dieses punctum
ein “Mehr an Sichtbarem” ist, dass es “Geschenk und Gunst” ist. Weil
uns das punctum aber trifft, und zwar an einer offensichtlich
ungeschützten, empfindlichen Stelle, bedeutet die Nennung des
punctum ein Bekenntnis; es anderen kundtun bedeutet auch “sich
preisgeben”. Wir bekennen damit, was unser “denkendes Auge” der
Fotografie hinzufügt. Denn das punctum ist das, was ich als
Betrachter dem Photo hinzufüge UND "was dennoch schon da ist.”
Einem Bild etwas hinzufügen, was schon da ist. Mit
dieser paradoxen Formulierung ist sehr genau beschrieben, was
interpretieren heißt. Interpretieren heißt nicht: etwas hineinlegen,
etwas hineinpumpen. Es meint: herausbringen, und zwar das, was da
ist - insofern aber, dass es vordem nicht sichtbar war, lässt sich
sagen, interpretieren sei ein Hinzufügen. Das geht nicht, ohne genau
hinzusehen, und es geht auch nicht, ohne nachzudenken; genauer: es
geht nicht, ohne mit dem Bild zu denken, an seinem Leitfaden zu
denken. Wer nicht mitdenkt, fliegt raus, hat Joseph Beuys einmal
gesagt – aber auch, er denke sowieso mit dem Knie. Ich habe das
immer so verstanden, dass es ein Denken mit dem Körper gibt – nicht
nur eines mit einem Organ, sondern mit dem Körper. Das ist ein
Hinweis auf Erfahrungen, auf Zuständlichkeiten unseres Körpers,
hervorgerufen durch Gedanken und Widerfahrnisse, durch solches, was
uns zugestoßen ist und sich eingeschrieben hat in das Gedächtnis,
das der Körper ist. So hat sich mir, mit dem 30-Sekunden-Film meiner
Eltern wohl für immer eingeschrieben, dass Bilder, ob wir wollen
oder nicht, mit Leben und Tod zu tun haben. Es ist nicht bei dieser
einen Erfahrung geblieben.
“… heute ist es”, schrieb Roland Barthes, “als ob
wir das zutiefst Wahnhafte der PHOTOGRAPHIE verdrängten: sie
erinnert an ihr mythisches Erbe nur noch durch jenes leichte
Unbehagen, das mich beim Betrachten ‚meiner selbst’ auf einem Stück
Papier überkommt.” Stellen wir uns dem Verdrängten, meine Damen und
Herren, dem Wahnhaften der Bilder. Lassen Sie uns nachdenklich
werden.
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