3-D Rekonstruktion des Blumenstilllebens
--> Katalogvorwort - Kunst am Bau einmal anders
Dr. Dietrich Meyding, Oberfinanzpräsident, Oberfinanzdirektion Karlsruhe


--> Richard Schindler - Utulpia Heidelbergensis
Dr. Dirk Teuber, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden

--> A case of identity
Richard Schindler - Rede zur Eröffnung und Übergabe am 11.Oktober 1991, 11 Uhr

--> Aus dem Erläuterungsbericht zum Entwurf
Richard Schindler


Utulpia heidelbergensis ist eine öffentliche Auftragsarbeit für das Hauptzollamt in Heidelberg von 1991.

UTULPIA HEIDELBERGENSIS besteht aus 7 Einzelwerken, die sich an unterschiedlichsten Stellen im Gebäude befinden. Zentral ist die Rekonstruktion eines Blumenstillebens nach einem Druck eines Blumenstillebens von A. Bosschaert.

 

 

 

 

 

 

 

Printed in the Netherlands by Mercurius-Wormereer

Gerahmter Druck A. Bosschaert: Vaas Met Bloemen,
in Originalgröse mit Plastikschild

Die Reproduktion ist, wie die Kunstblumen, eine Nachahmung. Außerdem waren gerade Tulpenstillleben selbst lange Zeit Sammlungsgegenstände in den sog. Raritätenkabinetten (vgl. Asservatenkammern der Staatsanwaltschaft, Museen); als Abbilder wertvoller Blumen standen sie für fehlende Originale. Besonders das Bild von A. Bosscheart ist ein solches „Blumenportrait“. Die Reproduktion ist im Kontext des Entwurfs zugleich „Beweisstück“ und „Fahndungsplakat“.


Kunstblumen, Säule, Vitrine

Kunstblumen sind keine Blumen. Sie täuschen solche vor. Sie sind das optische, ästhetische Äquivalent zu Naturnachahmungen in großem technischen Stil: intelligente Computer, Retortenzüchtung, Genmanipulation. Für sich genommen sind sie ein poetisch-lyrisches, ein buntes Element im Grau des Alltags. In einer entscheidenden Hinsicht sind sie das Gegenteil des Stilllebens: während Stillleben immer auch als Symbol der Vergänglichkeit verstanden wurden, sind Kunstblumen Ausdruck nie verwelkender Schönheit und Dauer.

 


Drei synchronisierte Uhren Treppenaufgang

Ein Teil des mehrteiligen Werkes besteht aus drei Uhren im Treppenhaus. Da sie funktionieren und sogar funkferngesteuert exakt richtig gehen, können sie wie jede andere Uhr auch genutzt werden. Nur ihre Häufung, ihre Hängung, Anordnung, Beschriftung und ihre synchronisierte zeitversetzte Anzeige sind ein irritierender Überschuss, der das funktional Notwendige sprengt, sich in den Vordergrund der Aufmerksamkeit schiebt und den alltäglichen funktionalen Gebrauch erschwert und in Frage stellt. In dieser Arbeit ist der mögliche Gebrauchswert ein Abfallprodukt einer autonomen künstlerischen Ausdrucksgestalt, die wie ihre historischen Vorläufer (die Stillleben) die Vergänglichkeit menschlichen Seins in erträglicher Form zur Anschauung bringt.


Plastiktulpe, in Kniehöhe hinter Glas in der Wand
Hauptzollamt Heidelberg

Die Tulpe ist für jedermann leicht identifizierbar und sehr schön. Bekanntlich ist sie daher nicht nur der Holländer liebstes Blumenkind. Seit dem 16. Jh. genießt die Tulpe in Europa internationale Wertschätzung.

In der Mitte des 16. Jh. gab es in Holland die sog. Tulpomanie: ein exzessiver Handel mit Tulpenzwiebeln, der die nationale Wirtschaft an den Rand des Ruins brachte. Die Tulpe als Spekulationsobjekt damals, ist vergleichbar der Spekulation auf dem Kunstmarkt heute.

Zu Beginn des 19. Jh. gab es in Ungarn eine national-konservative Bewegung: die sog. Tulpenbewegung. Das Tulpensymbol, als Abzeichen getragen, stand für eine ökonomische Unabhängigkeitsbewegung, die letztlich großen Schaden angerichtet hat.


Kunstpostkarten, Stahlleiste, Magnete
Variable Sammlung von Kunstpostkarten im Flur

Bildpostkarten sind ebenfalls Reproduktionen. Sie sind beliebter Sammlungsgegenstand in nahezu allen Büros und Ämtern. Diese Sammlungen sind meist halb privat / halb öffentlich und werden selten bewusst als Sammlung (Ausstellung) verstanden. Auch dieser Teil des Entwurfs ist daher eine künstlerische Fortsetzung dessen, was im Amt ohnehin geschieht.

Hier wie an anderer Stelle kommt der Entwurf an eine Gretchenfrage der Kunstdiskussion heute: ist das Kunst, was wir täglich machen? (sammeln).

Dieser Teil der Arbeit besteht aus einer Sammlung von Kunstpostkarten, die im Flur an einer Eisenleiste mit Magneten öffentlich ausgestellt sind. Zugänglichkeit und Aufhängung ermöglichen den Mitarbeitern im Amt die Sammlung anders zu ordnen, zu reduzieren oder mit anderen Bildern zu erweitern. Was in jedem Amt ohnehin geschieht, dass Ansichtspostkarten von Kollegen etwa, im Büro, an Tür, Wand oder Computer, halböffentlich und inoffiziell ausgestellt werden, wird im Kontext eines Kunstwerks ausdrücklich und bewusst ästhetisch gestaltet zum autonomen Werk.

InformationskastenSchaukasten mit Aushang im Eingangsbereich vor gestreifter Tapete

Die Zitate im Kasten erscheinen wie eine offizielle Bekanntmachung, sind es aber nicht. Der Kasten ist durchaus üblich für innerbetriebliche Mitteilungen, hängt aber vor einer Tapete, die eher dem gegenüberliegenden Bild zuzuordnen wäre. Die Zitate verbinden und konfrontieren (wie die Installation insgesamt) „Gesetz“ und künstlerische Aussage im Hinblick auf den Themenhorizont Nachahmung, Kopie etc. Sie sind Teil der Gesamtinstallation und zugleich eine Art freier Selbstkommentar. (Ausstellung in der Ausstellung). Zitate 1. aus dem Zollgesetz, 2, von Verdi zum Stichwort Nachahmung in Kunst und Musik.

BlumentapeteDie Tapete für eine Wand im Eingangsbereich wurde von Mitarbeitern des Hauptzollamtes ausgesucht.

Die Tapete ist eine Wandverkleidung: sie dient dem schönen Schein. Sie ist gleichsam eine Tarnung. Aber es gibt Aufklärer: Detektive, Zollbeamte, Künstler.
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Vorwort. Kunst am Bau - mal anders

Dr. Dietrich Meyding, Oberfinanzpräsident, Oberfinanzdirektion Karlsruhe

Neue Wege waren gefragt, als sich die Kunstkommission der Oberfinanzdirektion Karlsruhe 1990 mit dem Thema „Kunst am Bau“ für das generalsanierte Dienstgebäude des Hauptzollamtes Heidelberg befasste. Die staatliche Hochbauverwaltung des Landes Baden-Württemberg - hier vertreten durch das staatliche Hochbauamt Heidelberg – hatte an städtebaulich hervorragender Stelle aus einem eher grauen und austauschbaren Zweckbau mit behutsam eingesetzten, sparsamen Mitteln ein qualitätvolles Bauwerk gestaltet, das den Betrachter von außen und den Benutzer von innen erfreut. Die Kunstkommission suchte mit der Einladung der Künstler einen neuen Weg hin zu einer integrierten Lösung.

Diesen neuen Weg wies der Entwurf des Freiburger Künstlers Richard Schindler. Mit seiner Installation „UTULPIA HEIDELBERGENSIS“ schuf er ein intelligentes und künstlerisch überzeugendes Konzept, das in origineller Weise auf den Erfahrungshorizont der Menschen in der Zollverwaltung eingeht. Dies jedenfalls war die einhellige Meinung der Juroren. Die einzelnen Kunstobjekte sind - auf alle Stockwerke des Hauptzollamtes verteilt - in das Gebäude und damit in die Arbeitswelt der Heidelberger Zöllner integriert.

Auch mit der vorliegenden Dokumentation versuchen wir neue Wege. Die „UTULPIA HEIDELBERGENSIS“ wird dem Leser bildlich vorgestellt und durch Beiträge des Künstlers erläutert; außerdem soll das Kunstwerk auch für die Zukunft dokumentiert und damit interessierten Kunstfreunden nahegebracht werden, auch denen, die ihr Weg nicht ohne weiteres als „Kunden“ ins Hauptzollamt Heidelberg führt.
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Richard Schindler - Utulpia Heidelbergensis

Dr. Dirk Teuber, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden

Werke aus dem Bereich der Kunst am Bau stehen in einem grundsätzlich anderen Verhältnis zur Öffentlichkeit, als jene, die in Museen und Kunsthallen gezeigt werden. Kunst im öffentlichen Raum muss künstlerische Gültigkeit und gedankliche Tragweite im Dialog mit einem Publikum unter Beweis stellen, das auf ästhetische Wahrnehmung nicht vorbereitet ist und mit unterschiedlichsten Vorinformationen seine Auseinandersetzung führt. Dies kann zu wohlwollender Akzeptanz, doch gerade im Bereich der Kunst im öffentlichen Raum auch zu radikaler Ablehnung führen, insbesondere dann, wenn Seh- und Denkgewohnheiten durch das Kunstwerk irritiert werden, wenn künstlerisch-gestalterische Verpflichtung und der Anspruch an konzeptuelles Denken im Widerspruch zu alltäglichen Lebensgewohnheiten stehen, mithin Fragen aufgeworfen werden, die beunruhigen.

Richard Schindler hat sich in seinem Werk immer wieder mit den Bedingungen von Wahrnehmung durch Bilder befasst, vor allem auch mit dem Selbstverständnis des Künstlers als Täter, der auch subversive Strategien zur Mitteilung durch Kunst nicht scheut. Seine Installation „Utulpia Heidelbergensis“ im Hauptzollamt Heidelberg ist eine bemerkenswerte Symbiose von formalem Anspruch, inhaltlichen Perspektiven und der Einbindung des Gebäudezwecks und der Menschen, die hier arbeiten, d.h. vor allem auch hier leben, Bereits im modern gestalteten Eingangsbereich mag den nach Orientierung in einer Behörde suchenden die schwüle Postjugendstil-Blumentapete irritieren. Gleich hinter der Luftschleuse hängt ein üppiges niederländisches Blumenstillleben von Ambrosius Bosschaert [1565-1621) in hochwertigem Farbdruck und schlichtem Kaufhausrahmen, gegenüber das gleiche Stillleben nachgestellt in Kunststoff- und Seidenblumen, dekorativ in einer Rundbogenvitrine arrangiert und von oben beleuchtet. Alles ist falsch und dann doch echt, denn im Falschen, im Schein ist Sinn verborgen. Diese Kunstblumenbilder spielen mit der Aura von Natur und Geschichte, mit Repräsentanz, Lebenskultur, Kunst und Kennerschaft. Es sind Räume der Flucht in zeitlose Schönheit und Behaglichkeit, eine Utopie, industriell hergestellt. Makellose Blumen auf Bildpostkarten werden eher nüchtern und sachlich auf einer Magnetschiene in der ersten Etage aufgereiht, ergänzt um die obligaten Urlaubsgrüße, Erinnerungen an Reisen. Die Angestellten sind gehalten, diese Bildersammlung zu ergänzen, die Exponate in die Büros zu entführen und „nach Gebrauch“ wieder in den Kreislauf der Phantasien zurückzuleiten. Nicht ohne leise Ironie durchkreuzt Schindler Wahrnehmungsgewohnheiten, indem er im Treppenflur des Obergeschosses in einer Wandnische die quasi museale Präsentation des Bildes einer perfekten Tulpe zelebriert, diesmal aus Plastik und in der „Dackelperspektive“.

Der Schlüssel zu einem weiter-gefassten Verständnis findet sich im Treppenaufgang: drei Normaluhren, die drei verschiedene Ortszeiten zeigen, mithin auf drei synchron verlaufende Lebenshorizonte und die jeweiligen zeitlich-geographisch bedingten Wahrnehmungsdifferenzen anspielen. Anonymisiert durch die formalen Bezeichnungen A, B und C sind sie zugleich technisch-prozessurale Vergegenwärtigung der permanent verfließenden Gegenwart, ein Bezug, der auf die Blumenstillleben zurückverweist, sind diese im abendländischen Denken doch stets auch Memento Mora, Erinnerung an die Hinfälligkeit der Existenz inmitten der Pracht, und damit zugleich das Gegenteil einer Plastiktulpe, die einzig dekorative Schönheit im Schein der Natur funktionalisiert.

Zudem: Schindler versteht seine Installation auch als eine Erweiterung der Arbeit des Zolls, denn eingebunden sind Vitrinen mit Schaustücken aus der Asservatenkammer, die Fälschungen von Markenprodukten und beschlagnahmte Reisesouvenirs aus Elfenbein, etc. zeigen, Gegenstände letztlich, die mit der Suggestion von Exklusivität und Exotik Hoffnungen und Sehnsüchte um-spielen, und die vielfältigen Aufgaben des Zolls vom Kampf gegen organisierte Wirtschaftskriminalität bis zum Artenschutz dokumentieren. Richard Schindlers Werk fügt sich offen - und subversiv - in dieses Gebäude, in die Lebenswelt der Menschen und ihre Vorstellungen von Kunst und Schönheit ein, spielt mit einer bloß genießenden Wahrnehmung ebenso wie mit dem Charakter einer Behörde, die auch gegen kriminelle Wertschöpfung durch Schein, auf Beobachtung und Kontrolle, auf Entlarvung von Täuschungen und Suggestionen hin eingerichtet ist.

Unmittelbarer, direkter als im Museum, kann Kunst am Bau bzw. Kunst im öffentlichen Raum ein Bewusstsein für die Bedingungen des Denkens in Bildern schaffen. Mehr und anders kann hier auch kulturelle Verantwortung gewonnen werden, gerade wenn man, verursacht durch Nichtachtsamkeit, Ignoranz und Nachlässigkeit, den restauratorisch beklagenswerten Zustand mancher hochberühmter Kunstwerke im öffentlichen Raum betrachtet. Und so erfüllt sich im Hauptzollamt Heidelberg noch eine andere Utopie: die Begeisterung für die Installation „Utulpia Heidelbergensis“ hat durch Initiative von Herrn Klaus Roesner zu dieser Dokumentation geführt, die Bewusstsein schaffen möge für zentrale Erkenntnismöglichkeiten von Kunst im öffentlichen Raum und das auch - aber nicht nur - durch die Blume.
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A case of identity

Rede zur Eröffnung und Übergabe am 11. Oktober 1991, 11 Uhr
Richard Schindler, Freiburg

Eröffnungsreden haben mich immer an Agatha Christie erinnert. Und zwar an all jene Situationen, in denen der Detektiv Hercule Poirot den Kreis der Verdächtigen zusammenruft, um in einem spannenden Gesellschaftsspiel zu eröffnen, wer denn nun der Täter war, wie es zur Tat kam und was die Motive waren. Denn alle drei Fragen und die Form, in der sie öffentlich beantwortet werden, sind offenbar auch bei Ausstellungseröffnungen von großem Interesse. Wer war der Täter ? Wie kam es zur Tat? Was waren die Motive? Aber gerade das in solchen Gesellschaftsspielen meist im Vordergrund stehende Interesse an der Person des Täters und die Erwartung, dass er geständig sei, kann einen Künstler dazu veranlassen, einer solchen Veröffentlichung fern zu bleiben. Ihm ist die Tat als solche wichtig und nicht das Interesse an seiner Person oder an dem, was er darüber denkt. Daher sollten Sie ihm sein Fernbleiben auch nicht als Missachtung auslegen. Im Gegenteil: die Geste bedeutet ja nichts anderes, als dass er das Resultat seiner Arbeit Ihnen anvertraut. Eben das heißt ja: eine Sache publizieren, der Öffentlichkeit des Publikums überlassen. Der Künstler stellt sich nicht vor - er tritt zurück - und steht dazu. Ich darf das, wie übrigens auch das Folgende, in seinem Namen sagen, weil wir seit vielen Jahren miteinander vertraut sind und uns, soweit das überhaupt geht, auch gut kennen.

Was hülfe es auch, wenn der Täter hier wäre, man auf ihn zeigte und Ihnen sagte: das ist er. Sie müssten es hinnehmen: auf Treu und Glauben. Denn Wundmale, auf die der Finger zu legen wäre, tragen Künstler nicht auf der Stirn. Die Identität des Täters wird durch andere bezeugt, und es bleibt kaum mehr, als ihrem Zeugnis Glauben zu schenken. Wie riskant solche Zeugenschaft aber sein kann, ist nicht nur aus Kriminalgeschichten, sondern aus der Geschichte selbst nur allzu bekannt. Da es Jahrtausende lang keine Möglichkeit gab, die Identität einer Person zweifelsfrei festzustellen, gab es eben solange Identitätsbetrügereien, Verbrechen und vor allem tödlich endende Justizirrtümer.

Es war daher eine wahre Sensation, als ein Identifikationsverfahren bekannt wurde, das ein Polizeischreiber namens Alphonse Bertillon im Jahre 1879 erfunden hatte. Denn stellen Sie sich vor, in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es, aus Mangel an geeigneteren Identifikationsverfahren, üblich, in Gefängnissen regelmäßig sogenannte Gefangenen - Paraden abzuhalten, damit sich Beamte die Gesichter der Verurteilten einprägen konnten.

Detektive, die, wie Vidocq in Paris, ein phänomenales Gedächtnis besaßen oder, wie John Fielding in London, mehr als 3000 Verbrecher an ihren Stimmen unterscheiden konnten, waren selten. Und die damals gerade erst erfundene Fotografie war auch keine große Hilfe. Wie sollte man im gegebenen Fall die Identität eines Menschen feststellen, wenn man ihn mit Abertausenden meist schlechter Fotografien vergleichen musste? Was sollte man tun, wenn ein Mensch, was damals ungehindert möglich war, einfach behauptete, er sei der und der? Der verschollene Millionenerbe des Lord James Tichborne z.B. eine Behauptung, deren Prüfung die englischen Gerichte mehr als 10 Jahre beschäftigte!

Aus den anthropologischen Forschungen seines Vaters war Bertillon bekannt, dass die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war, auch nur zwei Menschen zu finden, die exakt die gleichen Körpermaße besaßen. Außerdem wusste er, dass sich diese Maße und ihre Proportionen bei Erwachsenen nicht mehr ändern. Darin lag die einmalige und bis dahin nie genutzte Chance, eine Person einwandfrei zu identifizieren. Nach Bertillons Vorschlag wurden (zunächst nur probehalber und auch nur in Paris) alle Verhafteten mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems vermessen. Man maß Kopf und Brustumfang, die Länge der Arme und Beine, der Finger usw. Bis zu 11 verschiedene Körpermaße wurden in einem umständlichen und sicher nicht immer genauen Verfahren abgenommen und in ein ständig wachsendes Karteisystem eingetragen. Tatsächlich konnte Bertillon hunderte Personen identifizieren und des Identitätsschwindels überführen. 20 Jahre später, um 1900, hatte die Bertillonage, wie man das Verfahren jetzt nannte, Europa und nahezu die USA erobert.

Das Verfahren hat Bertillon berühmt gemacht. Allerdings für nicht sehr lange. Die spannen- de Geschichte der Identifikation war mit der Bertillonage nicht zu Ende. Denn fast zur selben Zeit haben der Verwaltungsbeamte William Herschel in Indien und der Arzt Dr. Henry Faulds in Tokio, vollkommen unabhängig voneinander, eine der folgenreichsten Entdeckungen zum Problem der Identifizierung von Personen gemacht. Und, was sicher genauso entscheidend war wie die Entdeckung selbst, sie haben ihre Anwendungsmöglichkeiten erkannt.

Herschel und Faulds entdeckten, dass die sogenannten Papillarlinien an den Fingerkuppen eines jeden Menschen vollkommen einmalig sind und von der Geburt bis zum Tode, ja über diesen hinaus, identisch bleiben. Sie entdeckten zudem, dass auf ganz einfache Art und Weise, mittels simpler Stempelfarbe, ein Bild dieser Linienmuster zu erhalten war. Von nun an war es möglich, den Beweis für die Identität einer Person zu erbringen, ohne auf prinzipiell immer zweifelhafte Zeugenaussagen zurückgreifen zu müssen. Man hatte ein Unterscheidungsmerkmal gefunden, das sich auf einfachste Art feststellen ließ und das jeden einzelnen Menschen unter Millionen anderer identifizierbar macht. Alle betrügerischen Versuche, dieses Identifikationsmerkmal unkenntlich zu machen, durch Verstümmelung oder Hauttransplantation, schlugen fehl. Papillarlinien wachsen immer wieder nach und bilden sich neu. Jeder Mensch konnte, wenn sein Fingerbild einmal aufgenommen war, ohne den geringsten Zweifel identifiziert werden. Dass die Fingerbilder eine heraus ragende Rolle in juristischen Ermittlungsverfahren einnehmen, beruht auf dem ebenso einfachen wie verblüffenden Umstand, dass diese Bilder auch unwillentlich an x-beliebigen Orten, an x-beliebigen Gegenständen von Menschen zurückgelassen werden. Geringste Fettspuren an den Fingern bewirken, dass sich ihre Abdrücke an Gegenständen erhalten und sich später abnehmen lassen.

Aber erst 1928 wurde zum ersten Mal in der Geschichte der amerikanischen Justiz ein Fingerabdruck als Indizienbeweis vor Gericht anerkannt. Nachdem das gewaltige Problem der Registratur von Abermillionen Fingerabdrücken gelöst war, waren die Vorteile der Daktyloskopie zur Identifikation von Personen nach Verbrechen, Katastrophen oder Unfällen nicht mehr zu übersehen. Die Bertillonage war durch ein sichereres, schnelleres und einfacheres Verfahren verdrängt worden.

Heute gibt es noch eindrucksvollere, differenziertere Methoden um die Identität einer Person festzustellen. So lässt sich z.B. anhand nur einer einzigen Zelle des menschlichen Organismus die für jeden Menschen einmalige Struktur der Gene ermitteln. Aber schon entstehen, als Reaktion auf diese gentechnologischen Errungenschaften, Visionen die uns die Möglichkeit vor Augen stellen, durch Gen-Manipulation vollkommen identische Lebewesen zu erzeugen, zu klonen, wie man sagt. Am Horizont spekulativer Zukunftsentwürfe taucht die Möglichkeit auf, gen-identische Menschen zu machen. Und mit dem Stichwort Cyber Space verbindet man gar die prinzipielle Möglichkeit einer perfekten Reproduktion der Wirklichkeit insgesamt.

Was würde es unter solchen Umständen nützen, wenn z.B. jemand behauptete, ich sei Richard Schindler? Wohl wenig, denn da es unzählige Exemplare dieses Namens geben könnte, hätte, was da behauptet würde, keinen Unterscheidungswert.

Auf diesen kommt es aber an. Denn die Frage nach der Identität ist, ganz allgemein gesagt, die Frage nach der Besonderheit, nach dem, was ein Einzelnes von allen anderen unterscheidet. Diese Unterschiede aber, die das Besondere, Einzelne auszeichnen, werden, wie wir wissen, mit solchen schon nicht mehr phantastischen Möglichkeiten technischer Verfahren immitierbar, simulierbar, reproduzierbar. Und das führt seinerseits zu der ständig wachsenden Schwierigkeit, Imitationen, Simulationen, Reproduktionen als solche überhaupt noch zu erkennen. Angesichts nahezu perfekter Reproduktionen von allem und jedem wird unser Unterscheidungsvermögen auf eine harte Probe gestellt.

An dieser Stelle setzt ein zentrales künstlerisches Anliegen ein: nämlich die Sinne zu sensibilisieren, zu befähigen, auch noch scheinbar unwesentliche Differenzen von Farben, Formen, Tönen etc. wahrzunehmen. Künstlerische Arbeit ist immer auch der Versuch, Unterschiede zu artikulieren, zu formulieren, zu demonstrieren und so für die Wahrnehmung zugänglich zu machen.

Aber mit den Möglichkeiten von Gen-Manipulation und Cyber-Space-Simulation hat sich die Lage dramatisch verändert. Wo Technologien, wie schon Film und Fernsehen, die Sinne regelrecht unterlaufen (die Bilder erscheinen ja nur bewegt, weil unsere Sinne dem schnellen Bildwechsel einfach nicht folgen können), ist die Sensibilisierung der Sinne nicht mehr das entscheidende Problem. Ich will Ihnen die Problemverschiebung, die sich da aufdrängt, an einem Beispiel aus einem Krimi deutlich machen.

Sie kennen die Ausgangssituation: ein Gefangener plant seine Flucht - aber nicht aus dem schwer bewachten Gefängnis, sondern aus dem Krankenhaus. Um zunächst dorthin verlegt zu werden, fingiert er eine Krankheit. Eine Krankheit fingieren bedeutet, sie vorzutäuschen, so zu tun, als ob man die Krankheit hat. Ein erfahrener Arzt und Diagnostiker wird den Schwindel allerdings schnell durchschauen.

Ganz anders aber liegt der Fall, wenn der Betreffende die Krankheit nicht fingiert, sondern simuliert. Der Simulant nämlich hat es verstanden, seinen Körper selbst mit künstlichen Mitteln so zu manipulieren, dass er die Symptome der simulierten Krankheit tatsächlich hat. In Krimis kann man lesen, dass man Seife essen muss, um Fieber zu bekommen. Insofern der Simulant aber die Krankheitssymptome tatsächlich hat, ist er auch tatsächlich krank. Das heißt nun aber nichts anderes, als dass die Unterscheidung zwischen der bloß simulierten und der tatsächlichen Krankheit unmöglich ist. Mehr noch: die Unterscheidung ist auch überflüssig. Denn perfekte Simulation ist um nichts weniger real, als die Realität selbst. Wer krank ist, ist krank, egal aus welchen Gründen. Keine Sensibilisierung der Sinne könnte das künstlich Geschaffene vom natürlich Gewordenen unterscheiden.

Wenn dem so ist, dann kann, unter dem Gesichtspunkt perfekter Simulation, nicht mehr sinnvoll gefragt werden: gibt es unverwechselbare Merkmale und wie lassen sie sich zweifelsfrei feststellen. Die Frage ist unter solchen Voraussetzungen eine andere. Und die lässt sich an einem zweiten Aspekt erläutern, der den Fingerabdruck aller erst zu einem Identitätsmerkmal macht.

Die ungeheure Bedeutung, die der Fingerabdruck erlangte, hängt sichtlich damit zusammen, dass er ein hervorragendes Mittel war, die chaotisch gewordenen Zustände, vorsallem in den Großstädten (durch gewaltigen Bevölkerungszuwachs und steigende Kriminalität) in den Griff zu bekommen. Er war das Mittel im Kampf gegen das Verbrechen und für eine stabile Gesellschaftsordnung. Der Fingerabdruck ist geradezu ein modernes Symbol für die Sehnsucht nach Ordnung, z.B. für die wissenschaftliche Suche nach invarianten Strukturen, in Form von Ordnungsgesetzen der Natur oder Bildungsgesetzen der Geschichte. Der Fingerabdruck kann ein Symbol dafür sein, weil er selbst nicht nur einzigartig, sondern weil er „zeitlos“ ist.

Mit dem Fingerabdruck hatte man nämlich nicht nur ein Merkmal gefunden, das jedem Menschen einzigartig ist, sondern zugleich eines, das über die Zeiten hinweg sich selbst gleich bleibt. Es bleibt, was es ist, den Prozessen des Alterns zum Trotz; es erhält sich stabil, ungeachtet allen Werdens und Vergehens. Erst diese Konstanz gegenüber der Veränderung, diese tendenzielle Überwindung der Zeit, macht den Fingerabdruck zum Merkmal der Identität und zum möglichen Symbol für die Sehnsucht nach Ordnung, von der ich eben gesprochen habe. Gegen die Zeit ist der Fingerabdruck ein Gleichbleibendes, Identisches.

Nun nennt man dasjenige, das sich allem Werden entzieht, das, was nicht vergeht, seit alters her: das Ewige. Gewiss, das Fingerbild ist nicht ewig. Eine bestimmte Zeit nach dem Tode eines Menschen ist auch dieses Merkmal vergangen. Seine Widerständigkeit gegen die Zeit ist nur bezogen auf die Lebenszeit eines Menschen - es vergeht mit diesem. Aber genau dies gilt nicht mehr, wenn es möglich ist, eine exakte Kopie eines Menschen herzustellen. Es könnte sein, dass mit der Möglichkeit, vollkommen Identisches herzustellen, tatsächlich auch Vergänglichkeit und Tod, die Zeit überwunden wird. Was allem Werden entgegensteht, was sich aller Veränderung entzieht, ist unsterblich.

Anders gewendet: wenn durch perfekte Simulation das Moment der Einmaligkeit und Besonderheit verloren gehen sollte, wenn es das Unverwechselbare Einzelne nicht mehr geben sollte, was geschieht dann mit der Frage nach der Zeit ? Vergänglichkeit und Tod was bedeuten diese Worte dann noch?

Ich denke, dass Utulpia Heidelbergensis, die drei Uhren, die Postkartensammlung, die Tapete, die Bildreproduktion, die Rekonstruktion des Bildes, die künstliche Tulpe, dass sie auch damit etwas zu tun haben. Utulpia Heidelbergensis ist auch ein Fall von Identität und formuliert das Problem der Zeit. Es führt die Schönheit, aber auch die Leblosigkeit des Unsterblichen vor Augen. Und zwar ungeachtet und jenseits der Frage, wer ich bin.
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Aus dem Erläuterungsbericht zum Entwurf
Richard Schindler

Der Entwurf sieht eine Sammlung 7 verschiedener interaktiver Elemente vor. Er ist methodisch eine Fortsetzung der Tätigkeit der Zollbeamten mit künstlerischen Mitteln. Insbesondere:

a) der im Hauptzollamt bereits angelegten Sammlungsausstellung von beschlagnahmten Objekten (Fälschungen geschützter Firmenprodukte etc.; vgl. Produktpiraterie, Markenpiraterie).

b) der in vielen Büros ausgeübten Tätigkeit des Sammelns und Ausstellens von Bildpostkarten.
Der Entwurf führt darüber hinaus 2 Themen in das Hauptzollamt ein:

1. das Thema: „Leben“ und „Zeit“ (Lebenszeit, Arbeitszeit; vgl. Stillleben als Symbol der Vergänglichkeit),

2. das Thema: Kunst unter gegenwärtigen Bedingungen.
Insbesondere:

a) das Sammeln und Ausstellen von (Kunst-) Objekten;
b) die Fragen nach Original und Fälschung/Kopie;
c) die Fragen nach dem Naturschönen und dem Kunstschönen.

Ähnlich wie die vom Zollamt beschlagnahmten und in Glasvitrinen ausgestellten Waren handelt es sich bei den „Blumen“ und Blumendarstellungen um Nachahmungen. Aber während Kulturprodukte gesetzlich vor unerwünschter Nachahmung geschützt sind und im Falle einer Rechtsverletzung beschlagnahmt werden, stehen Naturprodukte unter keinem solchen Nachahmungsrechtsschutz. Sie dürfen beliebig - kunstgewerblich, kunsthandwerklich, künstlerisch - nachgeahmt werden. Solche Nachahmungen folgen, wenn überhaupt, nur ästhetischen Gesetzen. Entsprechend der Tätigkeit der Zollbeamten, werden von mir einige „verdächtige“, aber besonders schöne Objekte dem freien Warenverkehr entzogen und ausgestellt. In der Juristensprache: die Objekte werden „beschlagnahmt und gestellt“. Die einzelnen Objekte sind Beweisstücke einer künstlerischen Asservatenkammer im Zollamt.

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