Badische Zeitung vom Freitag, 26. September 2003

Gezüchtete Seele
AUGENSACHE (8):
Haarig

Nicht nur für Künstler scheint die Glatze eine einfache Möglichkeit einem modischen Trend gehorsam Folge zu leisten. Und, in eins damit, sich eventuell lichtender Stellen konsequent zu entledigen. Aber kahlköpfig gerät kein Lächeln. Soll es auch nicht. Der geschorene Kopf ist der männlich zu nennende Ausdruck beschädigten Lebens: nur den Männern gehen im Alter die Haare gänzlich aus - für gewöhnlich, oft und natürlich.

Nicht wenige leiden darunter, wenn es früh schon geschieht. Wie jene litten, denen, sie zu demütigen, das Kopfhaar mutwillig von anderen rasiert war. Nicht von ungefähr erinnert das Bild an Gefangene. Und vielleicht nicht aufs Haar, weil immer etwas bleibt, aber doch hinreichend, gleichen die selbst verordneten Glatzen denen von Patienten, den Opfern medizinischer Extrembehandlung. Da verrät sich die Gewalt im Spiel, das keines ist.

Wie manchmal religiöse Novizen sind oder soldatische Kämpfer, haarlos unter der Fuchtel strengster Regeln, eben so scheinen die breit Gescheitelten aus freien Stücken unter dem Zeichen von Ordnung und Zucht zu stehen. Offenbar, wie wenig anderes sonst, ist das haarlose Haupt, und gänzlich ohne sichtbar blutende Wunde, Ausdrucksgestalt einer gezüchteten Seele. Auch wenn die Träger selbst es nicht glauben mögen.

Ohne sichtbare Not zur Schau getragen, altklug und wie militärische Tarnkleidung von Punks zur Mode umgedeutet, bleibt der blanke Schädel verbunden mit Schmerz - und noch jedes Lächeln darunter wandelt sich manch einem in ein triumphal trotziges Grinsen. Der Stärkere, unter dessen Kuratel man steht, ist man schließlich selber.
Daher vielleicht wirken der Eigenraub der Haare und die oft eigenhändig berührte Glanzhaut für manchen obszön, wie gewichste Stiefel. Eine scheinbar absichtlose Demonstration auftrumpfender Selbstbeschneidung vor sich selbst und dem Auge der anderen. Im höchstgestirnten Verzicht auf restlich sinnliche Pracht entsteht ein Bild mönchischer Selbstzucht. Zugleich ein sektiererisches Eingeständnis einer Niederlage: an Natur oder Kultur - durch extrem gesteigerte Übernahme des Unvermeidlichen: Einmal sind doch alle Haare dahin - und wenn schon, denn schon. Was sein muss, soll sein.

Richard Schindler

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