Richard Schindler

Rundfunkbeitrag für den Südwestfunk SW2, 1989

Zur Erinnerung

Seitdem es gelungen ist, die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, daß eine höhere Notwendigkeit die Bereicherung des Lebens durch Kunstwerke fordere, ist die Anzahl der künstlerischen Unternehmungen ins Maßlose gestiegen. Auf alle Weise soll die Kunst in das Leben eingeführt und dem äußeren Dasein der Anschein einer künstlerischen Gestaltung verliehen werden. Unter dem drängenden Eifer derer, welche die Pflege der Kunst auf sich genommen haben, füllen sich öffentliche Plätze mit Bildsäulen, zur Zierde der Städte werden Brunnen angelegt; öffentliche und Privatgebäude schmücken sich mit Skulpturen; und die Einrichtung neuer Gebäude, die Wiederherstellung alter, gibt reichlich Gelegenheit, Wandmalereien aller Art anzuordnen. Auch der industrielle Unternehmergeist hat sich der Kunst bemächtigt und eine Massenproduktion hervorgerufen, wie sie früher nicht einmal geahnt werden konnte."

Diese Situationsbeschreibung gegenwärtiger Kunst stammt aus der Feder des Kunstsammlers und Mäzens Conrad Fiedler und wurde vor 110 Jahren formuliert. Aber Fiedler sagt mehr, und auch daran sei erinnert: "diejenigen, denen die Geschäfte des Tages einige Muße übrig lassen und die auch nur ein entferntes Verhältnis zur Kunst gewonnen haben, nehmen es auf sich, für die Interessen der Kunst unter ihren Mitbürgern zu sorgen - auch wenn sie nur wenig von den Bedürfnissen der Kunst verstehen." Fiedler sieht darin eine große Gefahr: der Kunst könnte ein Ende bereitet werden, gerade dadurch, daß allerorten und unterschiedslos Kunstinteressen gefördert werden.

Heute bemerken tatsächlich viele an sich selbst eine Art Kunstmüdigkeit. Denn nicht nur in Galerien, Museen und Kunstvereinen, sondern auch in Banken, Rathäusern, Industriebetrieben und Ver- lagen wird Kunst zur Betrachtung und mit dem Anspruch auf Auseinandersetzung angeboten. Was Conrad Fiedler vor 110 Jahren als Ende der Kunst befürchtete und hellwach in seinen ersten Anfängen erkannte, scheint sich heute zu vollenden. "Die Künstler verrechnen sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zu- schauer oder Zuhörer haben nicht mehr ihre vollen Sinne und geraten ... in eine Empfindung, welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist." Auch das eine Diagnose von 1879. Diesmal von Friedrich Nietzsche.

In der Tat, jetzt, wo das gebündelte Interesse nahezu aller Gesellschaftsbereiche auf die Kunst gerichtet ist und kaum einer Steigerung fähig scheint, denkt manch einer an Rückzug. Es fehlt, wie Nietzsche sagte, an Luft und freiem Atem. Aber nicht allein das. Vielen scheint die Kunst, zwischen Architektur und Design, zwischen Wissenschaft und Philosophie, ihr Eigensein eingebüßt, ja selbst aufgegeben zu haben. Der Soziologe Baudrillard spricht es aus: die Kunst ist tot. Er diagnostiziert für die Moderne eine "Euthanasie der Kunst durch sich selbst". Wer das nicht erkennt, erliege einem "sentimentalen Schwindel". Seit Duchamp stellen Künstler in und mit ihren Werken Untersuchungen darüber an, wann und warum ein Kunstwerk ein Kunstwerk ist. Mehr und mehr nehmen seither Kunstwerke das Bewußtsein ihres eigenen Gewordenseins in sich auf: das dokumentiert sich z.B. in der Bedeutung, die Rezipienten und Künstler dem Herstellungsprozeß eines Werkes beimessen, und in der bewußten Zuwendung und Verwendung der Geschichte der Kunst.

Das bedeutet, vermutet Danto, daß Kunst, reflexiv geworden, sich in Philosophie verwandelt und so tatsächlich in einer entscheidenden Hinsicht an ihr Ende gelangt. Hegels frühe Einsicht, daß die Kunst ein Verlorenes sei, weil sie von der Philosophie abgelöst werde, scheint sich zu bestätigen. Es werde kaum helfen, schrieb Hegel, wenn die Künstler, um das Verlorene wiederzugewinnen, versuchten, sich vom Trubel der Verhältnisse zurückzuziehen. Der Rückzug in die vermeintliche Einsamkeit der Individualität, schrieb er, bleibe eine bloß erkünstelte Angelegenheit und könne nichts zuwege bringen. Statt dessen sei den Verhältnissen ins Auge zu sehen. Kunst, einfach so, gibt es und kann es nicht mehr geben. Nichts was die Kunst betrifft, formulierte Adorno, ist mehr selbstverständlich. Daß diese Einsicht ihrerseits selbstverständlich geworden ist, bewahrheitet sich heute: niemand, der Kunst interessiert, aber fraglos hinnimmt. Aber trotz oder gerade wegen dieser Fragwürdigkeit wird Kunst heute überall gefeiert. "Wo die Magie des Todes sie umspielt", schrieb Nietzsche vor 110 Jahren, "genießt sie um so größere Aufmerksamkeit". Wir wollen schlechterdings nicht, daß sie untergeht. Hat Conrad Fiedler recht, wird aber gerade das allseitige Bemühen um Kunst in sein Gegenteil umschlagen. Die spektakulären Unternehmungen von Ausstellungen und Messen, die Aktualisierung der Kunst in den Medien sind, auch nach frühen Analysen Gehlens, geradezu die "Vollzugsform, in der Kunst verdampft wird". Wenn sie dennoch gerettet und nicht einfach in lebloser Form konserviert werden soll, wird man mit Fiedler hoffen müssen, daß nicht die Kunst überhaupt, sondern nur ein überkommener Begriff der Kunst an sein Ende gekommen ist. Man wird mit Baudrillard hoffen, daß sich nach dem "orgiastischen Kunstrausch" heute, daß sich nach dem "orgiastischen Kunstrausch" heute, daß sich nach dem "orgiastischen Kunstrausch" heute .......


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