Richard Schindler: AGFA++CT100, R.S. und KKS, 1987

 

FASSUNG GEWINNEN
Volker Bauermeister, Badische Zeitung Freiburg, Einführung zum Vortrag
“Jean Tinguely“ von Richard Schindler, März 2004 in der BZ-Vortragsreihe „Künstler über Künstler“

 Das Atelier zur guten Aussicht. Richard Schindlers Arbeitszimmer in der Villa Mitscherlich öffnet sich in einem verglasten Vorbau. Draußen drängt sich das Panorama auf: halb Freiburg auf einen Blick.

 Richard Schindler ist ein Künstler, der nach draußen schaut - und nicht nur von hier aus, nicht nur von oben aus der Villa. Einer, der mit Augen fragt: der im Sichtbaren die Bilder aufspürt, die etwas bedeuten. Von "Symbolisierungsleistung" hat er einmal gesprochen. Kunst ist da nichts, das sich in einem nur kunstinneren Bezirk abspielt. Richard Schindler behauptet sich im Gebiet der Wahrnehmung als Täter und als Detektiv. Für die Fotoserie "Zur Sachlage" kippte er Möbel von Freunden und Bekannten, drehte die um ihre dienlich aufrechte Stellung gebrachten, gewissermaßen "umgelegten" Objekte dann im Foto noch einmal, um sie aus der Schieflage zurückzuholen - und nun aber auf diese Weise im scheinbar Bodenlosen anzubringen: mit den Füßen nach unten im Luftraum, wie schwebend. Der Effekt ist ein penetrantes Hervortreten von Schrank, Sofa, Sessel, die um Gesetz und Ordnung ihrer Erscheinung gebracht sind. Und wir sehen, indem wir das System gestört finden, wie wir sehen: in Zusammenhängen, die die Gewohnheit vorgibt - relativiert im Maße des Zweckdienlichen. Die Störung, die der Künstler verursacht, macht sichtbar. Sein Sessel, auf dem man nicht sitzen kann, gewinnt die durch dringende Präsenz eines Bildes als skulpturales Ereigniss.

 Sichtbares ent-decken. In einer langen Recherche dokumentierte Richard Schindler, mit der Kamera in der Hand, bestimmte Randerscheinungen im Stadtbild. Was wohl jedem irgendwann einmal zu Augen kam, ohne aber eigentlich aufzufallen, durchzudringen - das isolierte, fokussierte und befragte er. Es ging um Abfall - Abgelegtes und Verlorenes. Schindlers Fotoarchiv "abhanden. gekommen" speichert und systematisiert Darstellungsformen der von ihrem Nutzer getrennten Gegenstände, zeichnet eine Struktur des Wegwerfens, respektive des Aufgreifens und Ausstellens: Einwickelpapier und Getränkedosen, Zigarettenschachteln, Plastikbecher, Sonnenbrille, Handschuh oder Kinderschuh all dieses wird "geklemmt", "gespießt", "zu Füßen gelegt". Was abhanden kam - oder nicht mehr gewollt wurde - kehrt gewissermaßen wieder oder behauptet eine Gegenwart in der Form seiner Darstellung als Bild: an Gartenzäunen, in den Winkeln zwischen Hauswänden und Abflussrohren, auf dem Pflaster oder Asphalt, vor Masten von Straßenleuchten, Schäften von Verkehrsschildern, Brückenpfeilern. "Im Abschied ist, wie in gelungenen Bildern, was verloren geht, auch aufgehoben", schreibt der Künstler in dem Buch "Bilder sind das Letzte". Und darum scheint es bei den "Straßenausstellungen" zu gehen: der Vergänglichkeit, die im Verlieren, im Wegwerfen wirkt, eine bildhafte Fassung zu geben. In der Gestaltung des Abschiedsmoments etwas wie Dauer zu behaupten. "Abhanden. gekommen" ist eine in dieser Richtung schier nicht enden wollende Indizienkette.

 Richard Schindler identifiziert Bilder als unentdeckt aussagekräftige Momente in den Grauzonen des Sichtbaren. Er macht sich, woran wir gewöhnlich achtlos vorbeigehen, zur "Augensache" - dies der Titel einer Serie, mit der er sich auf den BZ-Kulturseiten als Autor präsentiert. Was bedeutet die Mini-Schokolade, die zum Kaffee gereicht wird, den wir bezahlen? Was eigentlich sollen wir von den Windrädern im Bild der Landschaft halten? Was bedeuten die Trampelpfade, die parallel zum gepflasterten Weg verlaufen? –

 Seinem Expertentum in Sachen Hinsehen und Sehen-Denken hat Schindler mit dem Institut für Visual Profiling & Visual Resources Development Organisationsform und Zielrichtung gegeben: Unternehmen bietet es die Analyse oder Revision ihres Erscheinungsbilds an. Für Schindlers Bildarbeit sind die alltäglichen Bilder - die, die die Medien vermitteln, inklusive - Werkstoff. In der Atelierecke das Wandmosaik, um das ein Hauch von Ravenna ist, kommt doch von nichts anderem als den Zigarettenschachteln her, die der Raucher Schindler leerte. Und was wie hehre Kunst ausschaut, entpuppt sich als bildstrategisches Manöver, worin sich die skandalöse Nachbarschaft von Schönheit und Schrecken aufdeckt: Die geheime Faszinationskraft der Katastrophenansichten vom 11. September legt Schindler offen, wenn er Bildpartikel isoliert und zu rein pastellfarbenen Farbverläufen vergrößert – verabsolutiert.

 Und Jean Tinguely endlich, den wir hier auf der anderen Seite sehen, weil er das für den Abend gewählte Thema ist: Der ist ja nun auch alles andere als wirklichkeitsfremd. Einer, der das Triviale immer auf der Rechnung seiner Poesie hat. Kunst unter Ausschluss der Nicht-Kunst wollen seine Maschinenballette und Totentänze für undenkbar erklären. Ausführlicher will ich nicht werden. …