RICHARD SCHINDLER
Private Eyer On Art - Annäherung ans Auge. Ein Fallbericht.
Für Carola
VORWORT
Wie ein Stau auf der Autobahn:
unvorhersehbar kann man plötzlich und nur für kurze Zeit
Reisenden nebenan in die Augen schaun. So eine Mög lichkeit,
in Stau-nen zu geraten bot sich mir bei meinem ersten
Augenarztbesuch. Aber erst im nachhinein wurde mir der
Stellenwert dieser Erfahrung deutlich. Ich habe Zeit
gebraucht, um meine Geschwindigkeit soweit abzubremsen, daß
ich den Blick erfassen konnte, der auf mich gerichtet war.
Wartezimmereinrichtungen bei Augenärzten
und Schaufenster
von Optikern wurden für geraume
Zeit mein bevorzugtes Blickobjekt. Diese öffentlichen
Installationen und Bildinszenierungen sind Ausdruck einer
künstlerisch unprofessionellen, alltäglichen
Symbolisierungsleistung, aber sie sind von erstaunlicher
Stringenz. Nur muß man an offensichtlichedieser "Kunst
im öffentlichen Raum" und ihrem n Nutzungsangebot
vorbeischauen, um sie in ihrem bildnerischen Bedeutungsgehalt
wahrzunehmen. Die Eigengeschwindigkeit ist erheblich zu
drosseln, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Man muß sich
ihnen sehr, sehr langsam nähern.
Wo dies gelingt, ist etwas zu erfahren.
Nicht nur über Alltagskultur, sondern über Kunst im
öffentlichen Raum: vor allem, daß es entgegen allen
anderslautenden Beteuerungen ein Bedürfnis da für gibt. Die
Gestaltung der Orte, an denen die anderen Spezialisten fürs
Sehen täglich arbeiten, ist Objektivation unbefriedigter
ästhetischer Ausdrucksbedürfnisse rund ums Auge. Wie anders
ließe sich erklären, daß sich hier unter der Hand Bilder
des Todes und der Sexualität finden? Was hier gemacht wird,
bedarf nur einer strukturellen Steigerung, um künstlerisches
Handeln zu werden. Denn es geht dabei keineswegs um jene
Alltagsästhetik, wie sie z.B. Straßenarbeiter oder
Handwerker realisieren, wenn sie Schächte ein zäunen oder
Platten stapeln. Wartezimmer und, mehr noch natürlich,
Schaufenstereinrichtungen sind gewollte (wenn auch anders
gewollte als von mir gesehene) Inszenierungen - wie
Wohnzimmereinrichtungen, aber eben öffentlich.
In einzelnen dieser Bilder ist vieles, wenn
nicht alles vorhanden. Und doch eröffnet sich erst einer
eingehenderen Untersuchung vieler Bilder die eigentliche
Sinnstruktur. Die Wirkkraft liegt in der Reihung und
Häufung, der weiten Streuung der Zeichen und Symbole,
Chiffren und Codes. Ein Moment, das ich in meinen eigenen
Entwürfen zur Kunst im öffentlichen Raum in Radolfzell und
Marburg, in den Realisierungen in Heidelberg und Offenburg
umgesetzt habe.
Der nachfolgende Text ist die schriftliche
Fassung eines frei gehaltenen Dia-Vortrags, zuerst im
Kunstverein Heilbronn im Februar 1994. Er ist ein Beispiel
für den langsamen Blick, ein künstlerisch/detektivisches
Vorbeisehen am intendierten Nutzungsangebot öffentlicher
Bilder. Und ein Beispiel für ein Thema, das in der Arbeit
bildender Künstler immer thematisch ist - auch oder gerade
dann, wenn man, wie Yves Klein, der Auffassung ist, Malerei
heute könne sich nicht mehr an das Auge halten, sondern
allein an das, was uns nicht gehört, an das Leben.
Es geht, wie der Titel wörtlich sagt, um
ein privates Auge, um mein Auge. Dabei ist das nicht ganz
richtig gesagt: ich habe ja tatsächlich zwei Augen, und
private eye ist also schon als Metapher zu verstehen, im Sinn
von geistigem Auge etwa. Manche werden wissen, daß 'private
eye' ein englisch/amerikanischer Ausdruck ist und soviel
bedeutet wie Detektiv, Privatdetektiv. Es soll also um das
detektivische Auge gehen.
Der Untertitel 'Annäherung ans Auge' ist
in doppelter Bedeutung zu verstehen: zum einen soll gemeint
sein die Annäherung an meine Augen durch andere, wie man
sich meinen Augen genähert hat, und zum anderen, wie ich
mich dieser Annäherung genähert habe. Es geht mir um einen
Fallbericht, genauer um eine Nachzeichnung die ser doppelten
Annäherung die, zu meiner eigenen Überraschung, eine
Näherung an Sexualität und Tod bedeutete. Eine
Kriminalgeschichte also, und die will ich erzählen.
Der Text "Der verschlossene Raum"
ist ein Katalogbeitrag den ich 1991 für Michael Jäger
geschrieben habe. Er enthält implizit einige Grundthesen zur
Theorie künstlerischen Handelns. Der nachgestellte Text
"Das Geschäft der Detektive" ist eine
Zusammenfassung von Überlegungen zur Herleitung dieser
Thesen, wie sie im gleichnamigen Aufsatz in "Das
Kunstwerk" (1990/Juni) und in dem Vortrag
"Wirkliche Kunst, Wirkliche Verbrechen" an der
Städelschule Frankfurt (1992/Januar) vorgetragen wurden.
Die
Publikation wurde gefördert durch
den Kunst Fond Bonn 1995 und das
Ritterhausmuseum in Offenburg
Konzeption, Gestaltung, Bilder : Richard
Schindler
Copyright: Richard Schindler und G.
Braun GmbH Karlsruhe
Buchhandelsausgabe ISBN: 3-7650-9044-1
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