1.) Materialer Ausgangspunkt meiner Zeichnungen sind Gespräche.
Genauer: Skizzen. Skizzen, wie sie in Gesprächen entstehen, in
denen die Gesprächsteilnehmer auf ein Blatt zeichnen.
2.) Diese Skizzen enthalten meist zeichenhafte Kürzel, die
spontan im Gespräch erfunden wurden. Sie sind sichtbare
Niederschläge des Bemühens um eine Sache und die Kommunikation.
Denn die Skizzen stehen ganz im Dienst der Sache und des
Gesprächs. Sie erwachsen aus dem Wunsch nach Mitteilung und
Präzisierung von Gedanken und Vorstellungen. Und sie verdanken
sich der erfahrenen Unfähigkeit zum sprachlichen Ausdruck bzw. der
erfahrenen Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks selbst.
Wort und Zeichnung erklären und bestimmen sich wechselseitig.
3.) Sofern die benutzten Zeichen oder Kürzel in jedem Gespräch
neu entwickelt werden, können sie nicht zu bloßen Kennmarken
verkommen: Zeichen, fest umrissene Bedeutungsträger, sind sie nur
in diesem Gespräch. Außerhalb des Gesprächs sind sie Bilder, die
mehr oder anderes zu sagen befähigt sind als das, was unmittelbar
gemeint war.
4.) Es kommt ein Bild zustande, das etwas von der
konzentrierten Anstrengung des Gesprächs darstellt. Allerdings
nur, wenn es in einer ästhetischen Einstellung gesehen wird. Diese
Einstellung ließe sich provozieren - etwa indem man die Blätter in
eine Ausstellung hängt. Aber das ist mir zu wenig und es geht auch
anders.
5.) Man hat in der Theorie der Zeichnung unterschieden,
zwischen Zeichnungen die eine Funktion haben (wie z.B.
Konstruktionszeichnungen von Architekten oder Studien von Malern
und Bildhauern) und autonomen Zeichnungen, die keine Funktion
haben. Autonom können Zeichnungen heißen, insofern sie keine
Phase, keine Entwicklungsstufe eines übergeordneten
Schaffensprozesses sind. Eine Zeichnung autonom nennen besagt
demnach nur, dass sie werkunabhängig ist, nicht jedoch, dass sie
generell unabhängig ist und nur für sich steht.
6.) Die in den Gesprächen entstandenen Skizzen sind in
doppeltem Sinne nicht autonom: zum einen sind sie Teil einer
Planungs- oder Vorbereitungsphase eines Projekts, zum anderen sind
sie auf den Gesprächspartner hin formuliert. Dieser Sachverhalt
ändert sich, wenn ich diese Skizzen als Ausgangsmaterial für
weitere Zeichnungen verwende. Es entstehen autonome Zeichnungen.
Ich nenne, was dabei geschieht, Transformation durch
Rekonstruktion.
7.) Damit wird, wie gesagt, die Beziehung und die
Vermittlungsleistung der Zeichnung im Gespräch selbst zum Thema.
Das liegt in dem Umstand, dass ich mir die Gesprächsskizzen nach
dem Gespräch noch einmal vornehme. Beim Zeichnen wird das
Gespräch, der Ideenfindungsprozess rekonstruirt. Es entsteht die
visualisierte Genese einer Idee.
8.) Die Zeichnungen werden zu nachträglichen Variationen des
Gesprächs - zu Modi des Sagens, des anders Sagens. Läge dem
Zeichnen ein dokumentarisches Interesse zugrunde, würde man von
nachträglichen Korrekturen oder gar Fälschungen sprechen. Das
Erfinden neuer Konstellationen setzt den freien Umgang mit den
Zeichen der Skizze voraus - frei heißt dabei: frei von der
Bedeutung die die einzelnen Zeichen oder Kürzel im Gespräch
hatten. Was nicht bedeutet, dass sie diese nun nicht mehr haben
können. Aber auf diese Bedeutung kommt es nicht so sehr an, mehr
auf den graphischen Reiz und die Möglichkeiten der Strichführung.
Zum großen Teil verzichte ich auf die Gestaltung oder Umgestaltung
der Einzelelemente und beschränke mich auf das Spiel mit dem
Strichvolumen oder der gebremsten oder beschleunigten Dynamik.
Anders gewendet: der teilweise Gestaltungsverzicht ist
gleichbedeutend mit der Anerkennung der vorgegebenen, im Gespräch
determinierten Form. Trotzdem ist der Spielraum nicht auf die
Strichführung beschränkt - die Form selbst, wenn man so sagen
darf, bestimmt sich in der Konstellation, im Zusammentreten der
einzelnen Formen zu einem Gesamtklang, innerhalb dessen sich die
Formen gegenseitig deformieren oder stabilisieren, zurückdrängen
oder hervortreiben.
Diese Spiel ist ein Kräftespiel innerhalb der Zeichnung als
Ganzes, das vom Betrachter in Gang gesetzt und gesteuert werden
kann. Denn je nach Blick lassen sich andersartige Konstellationen
und Beziehungsebenen erfinden und sehen. Insofern sind die
Zeichnungen, auch nach deren Fertigstellung, einem ständigen
Ausprobieren möglicher Kompositionen offen. Sie sind Vorschläge.
Das abgeschlossene und vielleicht sogar schon vergessene Gespräch
von damals ist wiedereröffnet und kann auch von anderen anders
fortgesetzt werden. Die Zeichnung ist nur zu einem vorläufigen
scheinbaren Ende ihrer selbst gekommen.
Richard Schindler, 1985