o.T. (Gesprächsnotitz)
Bleistift auf Papier, 100 x 70cm, 1983
 

Transformation durch Rekonstruktion

1.) Materialer Ausgangspunkt meiner Zeichnungen sind Gespräche. Genauer: Skizzen. Skizzen, wie sie in Gesprächen entstehen, in denen die Gesprächsteilnehmer auf ein Blatt zeichnen.

2.) Diese Skizzen enthalten meist zeichenhafte Kürzel, die spontan im Gespräch erfunden wurden. Sie sind sichtbare Niederschläge des Bemühens um eine Sache und die Kommunikation. Denn die Skizzen stehen ganz im Dienst der Sache und des Gesprächs. Sie erwachsen aus dem Wunsch nach Mitteilung und Präzisierung von Gedanken und Vorstellungen. Und sie verdanken sich der erfahrenen Unfähigkeit zum sprachlichen Ausdruck bzw. der erfahrenen Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks selbst. Wort und Zeichnung erklären und bestimmen sich wechselseitig.

3.) Sofern die benutzten Zeichen oder Kürzel in jedem Gespräch neu entwickelt werden, können sie nicht zu bloßen Kennmarken verkommen: Zeichen, fest umrissene Bedeutungsträger, sind sie nur in diesem Gespräch. Außerhalb des Gesprächs sind sie Bilder, die mehr oder anderes zu sagen befähigt sind als das, was unmittelbar gemeint war.

4.) Es kommt ein Bild zustande, das etwas von der konzentrierten Anstrengung des Gesprächs darstellt. Allerdings nur, wenn es in einer ästhetischen Einstellung gesehen wird. Diese Einstellung ließe sich provozieren - etwa indem man die Blätter in eine Ausstellung hängt. Aber das ist mir zu wenig und es geht auch anders.

5.) Man hat in der Theorie der Zeichnung unterschieden, zwischen Zeichnungen die eine Funktion haben (wie z.B. Konstruktionszeichnungen von Architekten oder Studien von Malern und Bildhauern) und autonomen Zeichnungen, die keine Funktion haben. Autonom können Zeichnungen heißen, insofern sie keine Phase, keine Entwicklungsstufe eines übergeordneten Schaffensprozesses sind. Eine Zeichnung autonom nennen besagt demnach nur, dass sie werkunabhängig ist, nicht jedoch, dass sie generell unabhängig ist und nur für sich steht.

6.) Die in den Gesprächen entstandenen Skizzen sind in doppeltem Sinne nicht autonom: zum einen sind sie Teil einer Planungs- oder Vorbereitungsphase eines Projekts, zum anderen sind sie auf den Gesprächspartner hin formuliert. Dieser Sachverhalt ändert sich, wenn ich diese Skizzen als Ausgangsmaterial für weitere Zeichnungen verwende. Es entstehen autonome Zeichnungen. Ich nenne, was dabei geschieht, Transformation durch Rekonstruktion.

7.) Damit wird, wie gesagt, die Beziehung und die Vermittlungsleistung der Zeichnung im Gespräch selbst zum Thema. Das liegt in dem Umstand, dass ich mir die Gesprächsskizzen nach dem Gespräch noch einmal vornehme. Beim Zeichnen wird das Gespräch, der Ideenfindungsprozess rekonstruirt. Es entsteht die visualisierte Genese einer Idee.

8.) Die Zeichnungen werden zu nachträglichen Variationen des Gesprächs - zu Modi des Sagens, des anders Sagens. Läge dem Zeichnen ein dokumentarisches Interesse zugrunde, würde man von nachträglichen Korrekturen oder gar Fälschungen sprechen. Das Erfinden neuer Konstellationen setzt den freien Umgang mit den Zeichen der Skizze voraus - frei heißt dabei: frei von der Bedeutung die die einzelnen Zeichen oder Kürzel im Gespräch hatten. Was nicht bedeutet, dass sie diese nun nicht mehr haben können. Aber auf diese Bedeutung kommt es nicht so sehr an, mehr auf den graphischen Reiz und die Möglichkeiten der Strichführung. Zum großen Teil verzichte ich auf die Gestaltung oder Umgestaltung der Einzelelemente und beschränke mich auf das Spiel mit dem Strichvolumen oder der gebremsten oder beschleunigten Dynamik.

Anders gewendet: der teilweise Gestaltungsverzicht ist gleichbedeutend mit der Anerkennung der vorgegebenen, im Gespräch determinierten Form. Trotzdem ist der Spielraum nicht auf die Strichführung beschränkt - die Form selbst, wenn man so sagen darf, bestimmt sich in der Konstellation, im Zusammentreten der einzelnen Formen zu einem Gesamtklang, innerhalb dessen sich die Formen gegenseitig deformieren oder stabilisieren, zurückdrängen oder hervortreiben.

Diese Spiel ist ein Kräftespiel innerhalb der Zeichnung als Ganzes, das vom Betrachter in Gang gesetzt und gesteuert werden kann. Denn je nach Blick lassen sich andersartige Konstellationen und Beziehungsebenen erfinden und sehen. Insofern sind die Zeichnungen, auch nach deren Fertigstellung, einem ständigen Ausprobieren möglicher Kompositionen offen. Sie sind Vorschläge. Das abgeschlossene und vielleicht sogar schon vergessene Gespräch von damals ist wiedereröffnet und kann auch von anderen anders fortgesetzt werden. Die Zeichnung ist nur zu einem vorläufigen scheinbaren Ende ihrer selbst gekommen.
Richard Schindler, 1985